In Deutschland seien nach Ansicht der Bundesregierung in den letzten 10 Jahren etwa 190.000 Menschen an Erkrankungen gestorben, gegen die man impfen könne - so zitiert zumindest die Tagesschau auf ihrem twitter-Account aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion (Tagesschau 2017, DIP 2017).

Nachdem die Antwort der Bundesregierung mittlerweile zumindest in einer Vorabversion veröffentlicht wurde, wird klar, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage diese Behauptung dieser 190.000 Toten beruht: auf keiner, die diesen Namen verdiente.... sie fußt auf "Schätzungen des RKI", deren Grundlage wiederum die Bundesregierung nicht mitteilt.

Die einzig détaillierter ausgeführte Behauptung, die der Todesfälle an der durch die Masern ausgelöste so genannte SSPE, zeigt jedoch eindrücklich, wie hier "wissenschaftlich" gearbeitet wurde. Zum Hintergrund: in sehr, sehr seltenen Fällen (die WHO geht in einer aktuellen Veröffentlichung von 2017 von einem Fall auf 10.000 bis 100.000 Masernkranke aus (WHO 2017)) kommt es (oft erst Jahre) nach der Masernerkrankung zu einer schleichenden Hirnentzündung, die immer tödlich endet. Somit ist vordergründig die Schlussfolgerung des RKI "jeder Fall von SSPE ist ein Todesfall" nicht falsch, aber: die Häufigkeit der SSPE entnimmt das RKI eigenen Angaben zufolge den Krankenhausdiagnosestatistik des Statistischen Bundesamtes und das ist wissenschaftlich gesehen für diese Schlussfolgerung völlig inakzeptabel. Hier tauchen alle bei der Entlassung eines Patienten von den Kliniken gestellten Diagnosen in der gemeldeten Häufigkeit auf, jedes Mal und nach jedem Aufenthalt - natürlich anonymisiert.  Da im Laufe des monate-, oft jahrelangen Erkrankungsprozesses bei der SSPE immer wieder stationäre Krankenhausaufenthalte notwendig werden, tauchen diese Patienten eben genau so oft in der Statistik auf, wie sie stationärer Pflege bedurften - jedes Mal als neuer, zukünftiger Todesfall.

Der Versuch, diese Zahlen anhand offizieller Quellen wie der "Gesundheitsberichterstattung des Bundes [!] (GBE-Bund)" und des "Zentrums für Krebsregisterdaten (ZfKD)", denen wiederum die offiziellen Datenbanken von Statistischem Bundesamt und Robert Koch Institut zugrunde liegen, zu überprüfen, ergibt das folgende Bild an Sterbefällen. Angegeben sind jeweils die  Todesfälle an der jeweiligen Erkrankung im angegebenen Jahr (berücksichtigt wurden diejenigen Erkrankungen, gegen die eine Impfung von der STIKO allgemein (oder wie bei HPV und Influenza für größere Bevölkerungsgruppen) empfohlen wird):

 

 todesfaelle d 2006 2015

 

Schon die unkommentierten Rohdaten zeigen, wie erheblich die Abweichung der tatsächlich dokumentierten Todesfälle von der RKI-Behauptung ist, dabei muss hier noch zuungunsten einer eventuellen Impfwirkung nachdifferenziert werden:

  • So gibt die GBE-Bund weder bei Haemophilus influenzae, noch bei Pneumokokken oder Meningokokken eine Differenzierung nach Kapsel- oder Serotypen an. Alle drei in Deutschland empfohlenen jeweiligen Impfungen schützen jedoch nur vor einem kleinen Teil der in Frage kommenden Erregertypen und bei allen drei Bakterienfamilien wurde in den letzten Jahren eine Verschiebung hin zu den nicht durch die Impfung erfassten Serotypen beobachtet (s. die jeweiligen Kapitel dieser Internetseite).

  • Dies gilt vor allem auch bei der HPV-Impfung und dem Gebärmutterhalskrebs - bis zum heutigen Tage steht der wissenschaftliche Beweis aus, ob und wenn ja in welchem Ausmaß die Impfung tatsächlich Krebsfälle (und nicht nur deren Vorstufen) verringert und tatsächlich Todesfälle verhindert. Dennoch habe ich in dieser Übersicht die Gesamtzahl der Todesfälle an Gebärmutterhalskrebs in Deutschland pro Jahr aufgeführt - eine Zahl, die selbst im günstigsten anzunehmenden Fall zu einer substantiellen Überschätzung der Impfeffektivität führt.

  • Von entscheidender Bedeutung ist auch die Differenzierung zwischen der Tatsache, dass es gegen eine Erkrankung eine Impfung gibt und der, dass diese die Erkrankung tatsächlich verhindert. Dass dies überhaupt nicht gleichbedeutend ist, zeigen als neuere Beispiele die Pneumokokkenimpfung (die hervorragend gegen einzelne Serotypen, aber nur sehr mäßig gegen die Erkrankungen schützt), als etabliertere Impfungen die Keuchhusten- oder Mumpsimpfung; beide Erkrankungen erleben trotz anhaltender hoher Durchimpfungsraten gerade unvorhergesehene comebacks (s. auch hier die jeweiligen Kapitel dieser Internetseite).

Trotz all dieser Faktoren, die zu einem Überschätzen eines eventuellen Impfeffektes führen (ein klassischer bias, eine systematische Verzerrung eines Ergebnisses in eine Richtung), ergeben die offiziellen Zahlen nicht einmal ein Zehntel (!) der Behaupteten... .

Auch und gerade in Zeiten von fake news und alternativen Fakten bleibt auch nach dem Vorliegen der der Antwort der Bundesregierung zugrunde liegenden Daten somit völlig offen, an welcher (Regierungs-) Stelle hier die eine oder andere Null zuviel aufgetaucht ist....

 

Literatur

DIP. http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP19/2304/230436.html

GBE-Bund. http://www.gbe-bund.de

Tagesschau. https://twitter.com/tagesschau/status/946758053575168000

WHO. WER No 17, 2017, 92, 205–228. 04.01.2017

ZfKD. http://www.krebsdaten.de