Derzeit läuft der Film "Vaxxed" des britischen pädiatrischen Gastroenterologen Andrew Wakefield in den deutschen Kinos und sorgt für heftige Diskussionen, meist schon im Vorfeld eventueller Vorführungen (Merkur 2017), die, dem deutschen Verleih zu Folge, aufgrund des öffentlichen Drucks ausgesprochen schwer zu organisieren seien.

Der Film deckt - wenn man seiner Darstellung folgt - möglicherweise einen der größten Betrugsskandale in der medizinischen Wissenschaft der letzten Jahrzehnte auf: die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC habe, so ein im Film namentlich genannter whistleblower des CDC, bei der Untersuchung eines eventuellen Zusammenhangs zwischen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR) und dem Auftreten von Autismus in dem Moment bewusst massivste Datenmanipulationen und -vernichtungen vorgenommen, als aus den erhobenen Daten abzusehen gewesen sei, dass das Autismusrisiko zumindest für bestimmte Gruppen von Kindern durch die MMR-Impfung deutlich erhöht würde. Die dann aus den behauptet gefälschten Daten erstellte Studie widerlegte dann vermeintlich jeden Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus und werde - so Vaxxed - bis zum heutigen Tage benutzt, Regressansprüche geschädigter Kinder und Eltern abzuweisen und weitere Studien zu diesem Zusammenhang als unnötig abzulehnen.

Vaxxed behauptet diesen ursächlichen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus als bewiesen, behauptet eine exponentielle Zunahme der Autismusfälle in den USA während der letzten Jahrzehnte und prognostiziert für das Jahr 2032 in den USA ein Verhältnis von je einen Autismusfall auf zwei amerikanische Kinder.

Der Film beeindruckt durch seine hohe Informationsdichte und die zahlreichen, tief bewegenden Einzelfälle von tragischen Manifestationen eines autistischen Krankheitsbildes im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer MMR-Impfung. Er lässt jedoch bei genauerem Hinsehen zahllose zentrale Fragen offen:

  • Wenn es - wie von Vaxxed behauptet - einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus gäbe und die Häufigkeit autistischer Krankheitsbilder (als Folge der Impfung), wie im Film wiederholt dargestellt, in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen habe, müsste auch die behauptete Ursache, die MMR-Impfung, in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen haben. Dies ist jedoch nicht der Fall - wie in den meisten westlichen Ländern stagniert die MMR-Durchimpfungsrate in den USA seit langem auf hohem Niveau; sie betrug für Kinder im Alter von 19 bis 35 Monate im Jahr 2000 90,5% , im Jahr 2014 91,5%. Und auch bei den laut Vaxxed von den Rohdaten der CDC-Studie als besonders gefährdet identifizierten afroamerikanischen Kindern stieg sie in diesem Zeitraum lediglich von 87,7% auf 90,3% (Worldbank 2017, NCHS 2016). Auch über einen längeren Zeitraum betrachtet nimmt die Rate der Masernimpfung nicht exponentiell zu: nach den Zahlen der WHO, die die Masern-enthaltenden-Impfstoffe (measles-containing-vaccines MCV) enthält waren die Durchimpfungsraten 1980 86%, 1990 88%, 2000 91%, 2010 92% und 2013 91% - auch wenn dies nicht alles MMR-Impfstoffe sind (sondern z.B. auch Einzelimpfstoffe), lässt sich aus diesen Daten ein exponentieller Anstieg der MMR-Impfung de facto ausschließen (WHO 2014). Und die letzendlich entscheidenden absoluten Zahlen der in den USA verkauften MMR-Impfdosen zeigen für die 20 Jahre vor 2010 sogar einen Rückgang: so wurden laut CDC im Jahr 1991 in den USA 13.622.657 Dosen MMR-Impfstoff verkauft, im Jahr 2000 waren es 12.682.704 und im Jahr 2010 9.896.530 (Medalerts 2017). Es ist völlig unklar, wie - bei einem 1 : 1-Verhältnis von angenommener Ursache (eine MMR-Impfung) und angenommener Wirkung (Autismus bei dem einen geimpften Kind) - ein Rückgang der Ursache einen exponentiellen Anstieg der Wirkung hervorrufen soll.

  • Andrew Wakefield prognostiziert in dem Film bei unverändertem Impfverhalten eine weitere exponentielle Zunahme der Autismusfälle, im Jahre 2032 sei eine Häufigkeit von einem Fall auf zwei amerikanische Kinder zu erwarten. Auch diese Zunahme setzte ein paralleles Verhalten der dem Film nach ursächlichen Zahl der MMR-Impfdosen voraus - eine exponentielle Zunahme dieser Impfung ist jedoch weder für die Vergangenheit nachweisbar, noch für die Zukunft (angesichts der ohnehin schon erreichten, fast maximalen Durchimpfungsrate) zu erwarten.

  • Postuliert man den im Film behaupteten Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus, ist es nicht erklärbar, warum das beschriebene Phänomen offenbar auf die USA beschränkt bleibt oder sich zumindest im europäischen Raum so nicht nachweisen lässt. Zwar fehlen hier wirklich belastbare Zahlen, eine exponentielle Zunahme der Fälle oder gar eine vom Film behauptete Autismus-Epidemie lässt sich jedoch definitiv nicht belegen (EU 2005). Dies wirft umso mehr Fragen auf, als z. B. in Deutschland die gleichen MMR-Impfstoffe verwendet werden, wie in den USA und seit Jahren bezüglich der ersten MMR-Impfung, die im laut Film kritischsten Alter für das Auslösen einer Autismuserkrankung erfolgte, konstant noch höhere Durchimpfungsraten erreicht werden, als in den USA.

  • Die Darstellung der Autismus-Häufigkeit im Film beginnt im Jahr 1975, beschreibt den exponentiellen Anstieg bis heute und prognostiziert die weitere exponentielle Zunahme. Bei kaum einem anderen Krankheitsbild hat sich jedoch die Definition der Erkrankung in den letzten Jahrzehnten so stark verändert wie gerade beim Autismus: hier wurden mehrfach die diagnostischen Kriterien grundlegend geändert, bis heute exisitieren mehrere, unterschiedliche Diagnosesysteme parallel und vor allem wurden zahlreiche Krankheitsbilder unter die - wie es heute heißt - Autismus-Spektrum-Störung (ASS) - subsummiert, die 1975 teils noch gar nicht als eigenständige Erkrankungen definiert, geschweige denn dem Autismus zugerechnet wurden (EU 2005); einige dieser Erkrankungen (wie das Rett- oder das Fragile-X-Syndrom) sind nach heutigem Kenntnisstand eindeutig genetisch verursacht. Ob alleine diese Veränderungen der Definition und Erfassung den beobachteten Anstieg der Fallzahlen (als Rohdaten) in vollem Umfang erklärt, ist strittig (EU 2005), in jedem Falle wird dieser Aspekt jedoch als entscheidender Anteil der Zunahme angesehen (Hansen 2015). Es ist hochproblematisch, dass Vaxxed diesen Aspekt bei der Darstellung und Interpretation der Fallzahlen praktisch ignoriert - damit sind die präsentierten Zahlen zwar nicht falsch, aber in der Bedeutung, die ihnen der Film wiederholt zuweist, auch definitiv nicht richtig, sondern irreführend.

  • Die einzigen über einen längeren Zeitraum nach vergleichbaren Kriterien erhobenen Prävalenzdaten von ASS in den USA sind die, die das CDC seit dem Jahr 2000 über sein Netzwerk ADDM erhebt - hier werden Zahlen zur Häufigkeit von ASS bei Achtjährigen Kindern in Zweijahresabständen erhoben und veröffentlicht. Auch bei dieser Erhebung betonen die Autoren die Schwierigkeit der Vergleichbarkeit und die nur sehr eingeschränkte Übertragbarkeit auf die US-amerikanische Gesamtbevölkerung, sie sind aber derzeit die wohl einzigen Daten, die eine zumindest grobe Orientierung über die Entwicklung der tatsächlichen Prävalenz der ASS in den USA ermöglichen und ergeben folgendes Bild

Quelle: https://www.cdc.gov/ncbddd/autism/data.html - klicken Sie auf die Graphik für eine größere Darstellung (Abruf 07.04.2017)

Auch wenn diese Zahlen (in der Graphik grün) bei vergleichbarem diagnostischen Instrumentarium und vergleichbarer Definitionsbreite des Krankheitsbildes einen Anstieg zeigen (bei dem statistisch Bewanderte den sehr großen, sich überlappenden Vertrauensbereichen der Zahlen registrieren), so ist angesichts der wenigen Zahlen und des kurzen Erhebungszeitraums völlig offen, ob dieser exponentiell oder linear verläuft. Mit dem Verlauf der MMR-Verkaufszahlen (in der Graphik rot) im gleichen Zeitraum lässt sich der Verlauf der ASS-Diagnosen in keinem Fall korrelieren - sie entwickeln sich tendenziell eher gegenläufig.

(Zahlen CDC 2017/Medalerts 2017 - Klicken Sie auf die Graphik für eine größere Darstellung; Dank an Angelika Müller von efi-online für Hilfe bei der Aufbereitung der Daten)

 

Es ist das zweifellose Verdienst des Films, Hinweise zu liefern auf einen möglichen Wissenschaftsbetrug bisher beispielloser Qualität - sollten sich die in Vaxxed behaupteten Fakten bestätigen, würde dies das Vertrauen gerade in das CDC als de facto internationalen Leitstern staatlicher Gesundheitsbehörden bis in die Grundfesten erschüttern. Der Forderung des Films, hier schnellstmöglich Aufklärung zu schaffen (in dem z.B. der CDC-whistleblower offiziell vor einem Untersuchungsausschuss des amerikanischen Kongresses befragt wird), ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Dass durch die Behauptungen des Filmes die vermeintliche Sicherheit zum nur vermeintlich sicher widerlegten Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Erkrankungen aus dem Spektrum autistischer Störungen erschüttert wird, ist ebenfalls zu begrüßen: dass bei einer auf öffentliche Empfehlung hin millionenfach verimpften Vakzine wie dem MMR-Impfstoff bis zum heutigen Tage keine wissenschaftlich wirklich hochkarätige Studie existiert, die diesen möglichen Zusammenhang fundiert untersucht, ist kaum zu erklären. Die Studien, die gemeinhin als "Beweis" herangezogen werden sind praktisch ausnahmslos wissenschaftlich zweit- bis drittklassig, es sind ganz überwiegend epidemiologische Untersuchungen, die schon aus grundsätzlichen methodischen Gründen nicht leisten können, was man in sie hineininterpretiert: den sicheren Beweis eines fehlenden Zusammenhanges (eine Übersicht z.B. bei Knuf 2017). Diese Erkenntnis wird von der WHO übrigens beherzigt, wenn sie schreibt: "GACVS concluded that no evidence exists of a causal association between MMR vaccine and autism or autistic disorders" - im Gegensatz zu Publikationen wie die erwähnte von Knuf, in der die Liste der existierenden Studien untertitelt ist: "Studien, die den Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus widerlegen" (Knuf 2017). Es gilt auch hier das dem amerikanischen Astrophysiker Carl Sagan zugeschriebene, kluge Bonmot: "Absence of evidence is not evidence of absence"... 

Nur eine großangelegte, prospektive Studie von geimpften gegen ungeimpfte Kinder könnte die dringend erforderliche Klärung und Sicherheit bieten (denn auch andere Impfungen stehen im Verdacht, einen Zusammenhang zu ASS aufzuweisen). Angesichts von etwa 100.000 ungeimpften Kindern allein in Deutschland und des sehr überschaubaren Zeitraums, über den man die Kinder nachverfolgen müsste (eine ASS manifestieren sich praktisch immer innerhalb der ersten drei Lebensjahre), wäre eine solche Studie verhältnismäßig einfach und mit statistisch ausreichenden Teilnehmerzahlen durchzuführen. Die Impfstoffhersteller wie die öffentlichen Behörden wären gut damit beraten, nach 20 Jahren der substanzarmen Diskussion zum Thema MMR-Impfung/Autismus eine solche Studie zu initiieren, anstatt nur über die steigende Skepsis weiter Bevölkerungsteile gegenüber öffentlichen Empfehlungen und Behauptungen der pharmazeutischen Industrie zum Thema Impfen zu klagen. Denn diese Skepsis könnte - siehe Vaxxed - vielleicht gar nicht so unbegründet sein... .

Löst denn die MMR-Impfung jetzt Autismus aus oder nicht? Wir wissen es nicht!

Angesichts der zahllosen Einzelschicksale, die (nicht nur) in Wakefields Film einen sehr engen zeitlichen Zusammenhang zwischen MMR-Impfung und Autismus zeigen, fällt es schwer abzustreiten, dass es die Manifestation einer ASS nach der MMR-Impfung gibt - ein ursächlicher Zusammenhang bedarf nicht in jedem Fall eines statistischen Beweises, um dennoch wahr zu sein; Statistik ist nur eine von vielen Möglichkeiten sich der "Wahrheit" anzunähern und statistische Beweise brauchen vor allem diejenigen, die z.B. Empfehlungen für Viele oder gar Alle aussprechen müssen.

Bis zum Vorliegen der oben geforderten Studie "geimpft vs. ungeimpft" bleibt nur, sich an die renommiertesten Verfechter einer evidenzbasierten Medizin, die Cochrane-Collaboration, zu halten. Sie fasste ihre Untersuchungen über die Sicherheit der MMR-Impfstoffe im Jahr 2012 zusammen mit den Worten: "The design and reporting of safety outcomes in MMR vaccine studies, both pre- and post-marketing, are largely inadequate." (Demicheli 2012)

 

Literatur

CDC. Autism Spectrum Disease (ASD). 2017. (Abruf 07.04.2017)

Demicheli V. Cochrane Database Syst Rev. 2012 Feb 15;2:CD004407. (Abruf 06.04.2017)

EU. The prevalence of Autism Spectrum Disorders (ASD) in the EU. 2005. (Abruf 06.04.2017)

Hansen SN. JAMA Pediatr. 2015;169(1):56-62. doi:10.1001/jamapediatrics.2014.1893. (Abruf 06.04.2017)

Knuf. M. Pädiatrische Praxis 2017, Band 87/3, S. 409-29

Medalerts. http://www.medalerts.org/vaersdb/doses/. (Abruf 06.04.2017)

Münchner Merkur. https://www.merkur.de/bayern/umstrittene-doku-vaxxed-laeuft-in-muenchen-grosses-kino-fuer-impfgegner-8069609.html. (Abruf 06.04.2017)

National Center for Health Statistics (NCHS). Health, United States, 2015: With Special Feature on Racial and Ethnic Health Disparities. Hyattsville, MD. 2016. (Abruf 06.04.2017)

WHO. MMR and autism. 2003 (Abruf 10.04.2017)

WHO. Immunization Summary 2014. (Abruf 07.04.2017)