Am 21.11.2016 erschien in der Süddeutschen Zeitung (Rubrik Wissen) ein Artikel, der ausgehend von neuen Zahlen zur Häufigkeit der SSPE nach Masernerkrankung der reflexhaften Forderung nach der zumindest Masern-Impfpflicht ausgiebigen Raum gibt. Da der von mir eingereichte Leserbrief bis zum heutigen Tage nicht abgedruckt wurde, erlaube ich mir, ihn hier zu veröffentlichen.

Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass der zitierte amerikanische Kinderarzt - James D. Cherry - seit Jahren Sprecher beider großen Impfstoffhersteller ist (Cherry 2010 - s. dort unter Interessenkonflikte) und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands, dessen Funktionäre in der SZ wie üblich die Impfpflicht fordern, im letzten Jahr einen sechsstelligen Betrag von der pharmatzeutischen Industrie (auch und gerade auch von Impfstoffherstellern) erhielt (Correctiv 2016).

Hier der eingereichte Lesebrief:

"Die SSPE ist ohne Frage die schrecklichste mögliche Folge einer Maserninfektion und sollten sich die von Cherry veröffentlichten Zahlen bestätigen, wäre sie tatsächlich wesentlich häufiger, als bisher angenommen.

Mindestens genauso alarmierend wie die in der SZ zitierten Zahlen sind jedoch die reflexhaften Reaktionen von Verbands- und Berufspolitikern, die mit uhrwerkmäßiger Zuverlässigkeit solchen Veröffentlichungen folgen und die bei den Masern regelmäßig gipfeln in dem Lamento, die zweite Masernimpfung würde in Deutschland viel zu spät verabreicht und man müsse jetzt endlich eine Impfpflicht einführen.

Lassen wir bei Seite, dass die Zahlen von Cherry bisher noch nicht einmal in einer Fachzeitschrift erschienen sind und damit keinerlei Aussagen zu ihrer Stichhaltigkeit (oder z.B. zu eventuellen Interessenkonflikten der Autoren) gemacht werden können - die ebenfalls von der SZ zitierten Zahlen von Weißbrich werden jedenfalls von unabhängiger Seite wie dem arznei-telegramm für "weniger zuverlässig“ gehalten (a-t 2013).

Mit der Forderung nach einer frühen Zweitimpfung gegen Masern steht die Ständige Impfkommission (STIKO) in Westeuropa ziemlich allein da: die Impfkommissionen der meisten vergleichbaren westeuropäischen Länder empfehlen aus gutem Grund schon die erste Masernimpfung später (nämlich erst im 2. Lebensjahr - sie ist dann wesentlich effektiver) und die Zweitimpfung wird von den allermeisten entsprechenden Staaten erst nach dem dritten Geburtstag empfohlen (teilweise erst mit sechs (Schweden) oder gar elf (Belgien) Jahren) - ohne dass diese Länder alljährlich unter Masernepidemien leiden müssten (Übersicht s. hier).

Es gibt in (vor allem Ost-) Europa nicht wenige Staaten, in denen die Masernimpfung eine Pflichtimpfung ist - die offiziellen Zahlen der nicht als impfkritisch verrufenen WHO zeigen jedoch eindrucksvoll, dass die Durchimpfungsraten in den meisten dieser Länder unter den in Deutschland erreichten liegen (WHO 2015).

Die Hürden für das Außerkraftsetzen grundlegender Menschenrechte wie dem der körperlichen Unversehrtheit (das durch eine Impfpflicht verletzt würde) liegen aus gutem Grund in Deutschland sehr hoch - kluge Fachleute wie der scheidende Vorsitzende der STIKO, Herr Dr. Jan Leidel, wissen das und treten daher der reflektorischen Forderung nach einer Impfpflicht regelmäßig und öffentlich entgegen (Leidel 2016).

Das Thema Impfen und Impfpflicht ist zu komplex, um es für verbandspolitische Profilierung oder berufspolitische Sonntags- oder Parteitagsreden zu instrumentalisieren - es stünde dem journalistischen Anspruch der SZ gut zu Gesicht, sich dieser Komplexität unvoreingenommen zu stellen, anstatt unzulässigen Vereinfachungen regelmäßig und unhinterfragt Raum zu geben."



Literatur

arznei-telegramm 2013. Jahrgang 44, Nr. 10

Cherry JD. Clin Infect Dis. (2010) 51 (6): 663-667. doi: 10.1086/655826 - s. unter Interessenkonflikte. Abruf 28.11.2016

Correctiv.org. Zuwendungen BVKJ. Abruf 28.11.2016

Leidel, Jan. http://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/stiko_node.html Abruf 28.11.2016

Süddeutsche Zeitung, 21.11.2016, S. 18 Abruf 28.11.2016

WHO 2015. http://apps.who.int/gho/data/node.main.A826 Abruf 28.11.2016